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Abschied von der Globalisierung "Regionale Aufstellung, kürzere Lieferketten – für viele Unternehmen macht das jetzt Sinn"

Pandemie, Lockdowns und Krieg zeigen die Verletzlichkeit der Lieferketten. Logistikexperte Kai Hoberg rät Unternehmen, sich bereits jetzt auf mögliche weitere Probleme einzustellen – etwa einen Angriff Chinas auf Taiwan. Wie Unternehmen sich vorbereiten sollten, um im Krisenfall zu überleben.
Das Interview führte Helmut Reich
Hafen in Qingdao: "Sollte eines Tages auch China mit Sanktionen belegt werden wie jetzt Russland, werden unsere Lieferketten in der aktuellen Form zusammenbrechen"

Hafen in Qingdao: "Sollte eines Tages auch China mit Sanktionen belegt werden wie jetzt Russland, werden unsere Lieferketten in der aktuellen Form zusammenbrechen"

Foto: Yu Fangping/ SIPA Asia/ ZUMA Wire/ DPA

Herr Hoberg, seit zwei Jahren leiden die Lieferketten unter den Folgen der Pandemie. Unternehmen warten auf Teile und Kunden warten auf Produkte. Nun auch noch der Ukraine-Krieg sowie Lockdowns in Shenzen und Shanghai. Was hat das für Folgen?

Kai Hoberg: An Corona haben sich die Verantwortlichen für die Lieferketten in den vergangenen zwei Jahren fast schon gewöhnt. Natürlich gibt es auch hier immer noch Unwägbarkeiten wie jetzt den Lockdown in Shenzen und in Shanghai, doch grundsätzlich konnte man sich mittlerweile auf diese Situation einstellen. Durch den Ukraine-Krieg sieht das jetzt natürlich völlig anders aus. Denn dieser kam, vor allem in dem Ausmaß, für die allermeisten Unternehmen doch überraschend.

Wer ist betroffen?

Viele Unternehmen spüren zunächst kaum Auswirkungen, da sie keine Produkte oder Komponenten aus Russland oder der Ukraine beziehen, andere wiederum sind sofort sehr stark von den Sanktionen und den Kriegsfolgen betroffen. Hinzu kommt natürlich bei vielen das Wegbrechen der entsprechenden Absatzmärkte.

So eine Situation hat es lange nicht gegeben.

Das stimmt. Das letzte kurzfristige Ereignis mit ähnlich starken Auswirkungen auf die Lieferketten war das unter dem Stichwort "Fukushima" bekannte Erdbeben in Japan im Jahr 2011. Von dieser Naturkatastrophe waren auch viele Zulieferer in Japan betroffen. Durch die starken Verflechtungen von Unternehmen kam es auch damals zu vielen Engpässen und Ausfällen in den Lieferketten, auch zwischen den USA und Asien.

Nun trifft es eher Europa. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Zunächst einmal gibt es Ausfälle bei einzelnen Rohstoffen. Beispielsweise Titan aus Russland, das für den Flugzeugbau eingesetzt wird, und Neongas aus der Ukraine, das in der Halbleiterindustrie benötigt wird. Oder auch Nickel für rostfreien Stahl. Hier wurde bereits der Handel ausgesetzt, zum Teil sehen wir aber auch einen Spekulationsmarkt. Hinzu kommen die niedrigen Stundenlöhne in der Ukraine, die vor dem Krieg zu einer teilweisen Verlagerung von Produktionen geführt hatte. Diese fällt nun auch weg, was sich kürzlich bei den Kabelbäumen für die Automobilindustrie zeigte. Doch das alles betrifft noch immer nur einzelne Unternehmen in bestimmten Branchen.

"Über allem schwebt die Energiefrage"

Also alles nur halb so schlimm?

Nein, denn über allem schwebt die Energiefrage. Derzeit steigen die Energiepreise, aktuell sehen wir noch kein Versorgungsproblem, sondern "nur" ein Preisproblem. Doch schon das betrifft bereits nahezu alle Branchen und natürlich auch den Endverbraucher direkt. Hinzu kommt die Situation bei den Lebensmitteln. Hier gibt es zwar aktuell weder ein Liefer- noch ein Preisproblem, doch das könnte in der Zukunft ein großes Thema werden. Aktuell gibt es nur vereinzelte Engpässe durch Hamsterkäufe wie beim Sonnenblumenöl, was aber eher ein Luxusproblem ist.

Welche wirklichen Probleme könnten denn auf uns zukommen?

Bekanntlich kommt viel Weizen aus der Ukraine und auch aus Russland, das könnte mittelfristig zu Verwerfungen führen. Eine Aussaat wird zumindest in der Ukraine in diesem Jahr kaum stattfinden. Kurzfristig wird zwar eventuell noch geerntet, doch auch der Transport der großen Mengen wird sich zunehmend schwierig gestalten. Hier fehlt es an Sicherheit und an LKW-Fahrern. Dazu kommen Düngemittel, die ihren Weg nicht ins Ausland finden und damit die Erntemengen in der ganzen Welt reduzieren könnten.

Wie sieht es generell bei der Logistik aus, zum Beispiel auf dem Luftweg?

Sorgen bereitet die Luftfracht, denn Russland hat seinen Luftverkehr für westliche Länder gesperrt. Hier sind nun deutliche Umwege zwischen Asien und Europa notwendig, was dazu führt, dass die Cargo-Kapazität der Maschinen reduziert werden muss, um die höhere Reichweite mit einem stärkeren Treibstoffverbrauch zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass einige große Luftfrachtunternehmen durch den Boykott gar nicht mehr fliegen.

Bleibt die Seefracht.

Ja, doch die Schiffe sind aktuell sehr langsam unterwegs und brauchen 45 Tage oder mehr aus China. Bei der sehr viel schnelleren Route per Flugzeug geht also die Kapazität runter und auch die Züge durch Russland benötigt zwei Wochen, doch selbst dort geht aktuell nur noch wenig. Für Unternehmen, die auf schnelle Lieferungen von zeitkritischen Produkten aus Asien angewiesen sind, ist das ein großes Thema.

Können sich Unternehmen jetzt noch absichern, um Ihre Lieferketten zu stärken?

Kurzfristig kann man aktuell nur reagieren und das tun die Unternehmen ja auch. Man sieht, dass etwa die Automobilhersteller den Zulieferern helfen, aus der Ukraine herauszugehen und Kapazitäten in anderen Niedriglohnländern aufzubauen, etwa in Rumänien oder Bulgarien, auch in Nordafrika.

"Will man an den globalen Lieferketten festhalten oder sich lieber regionaler aufstellen?"

Und was können Unternehmen langfristig tun?

Da gilt es, sich die Frage zu stellen, was die Risiken in Bezug auf die Länder sind, in denen man einkauft und herstellt. Ist man weiter bereit, diese einzugehen? Will man an den globalen Lieferketten, die schon in den 90er-Jahren aufgebaut wurden, festhalten oder sich lieber regionaler aufstellen? Wer sich dafür entscheidet, sollte seine Strukturen vereinfachen und die Lieferketten verkürzen.

Das wäre ein Rückschlag für die Globalisierung.

Ja, doch das würde für viele Unternehmen in der augenblicklichen Situation Sinn ergeben. Sie produzieren dann nicht mehr in Asien für die Welt, sondern irgendwo in Europa für Europa, irgendwo in Asien für Asien und irgendwo in Lateinamerika für den nordamerikanischen Markt. Dabei wird man sicher kurz- und mittelfristig auch auf Probleme stoßen, vor allem bei den höheren Produktionskosten, denn die derzeitigen Strukturen haben sich ja nicht ohne Grund so verfestigt. Hier gilt es für jedes Unternehmen, selbst abzuwägen .

Welche Risiken dominieren?

Volkswirtschaftlich sind die Energiepreise und die Energiesicherheit das entscheidende Thema. Das wird in Deutschland noch für einige Verwunderung sorgen. In anderen Ländern, zum Beispiel Südafrika, gibt es ja bereits regelmäßig rollierend für zwei Stunden keinen Strom, um das Stromnetz vor dem Zusammenbruch zu schützen. Wir sollten uns alle einig sein, dass das für Deutschland und Europa keine Option sein darf – aber durchaus passieren könnte.

Und worauf sollten sich Unternehmen noch vorbereiten?

Ein Konflikt, den wir seit einiger Zeit beobachten, ist das Taiwan-Thema. Hier müssen Unternehmen überlegen, was es für sie bedeutet, wenn es dort zu einer Konfrontation kommen sollte. Jetzt stehen zwar alle unter dem Ukraine-Schock, doch man muss auch hier vordenken. Überlegen Sie, was mit Ihren Lieferketten passiert, wenn es dort zu einem Konflikt kommt und die westlichen Länder China mit einem ähnlichen Strafen- und Sanktionskatalog belegen wie jetzt Russland. Denn sonst werden wir schnell merken, dass unsere Lieferketten in der aktuellen Form vor einem Zusammenbruch stehen.

Wie lange dauert es, eine regionalere Aufstellung zu entwickeln?

Wichtig ist es, einen Plan zu entwickeln, um gegebenenfalls schnell reagieren zu können. Erste Unternehmen sind bereits dabei, vor allem aus der Chip- oder auch Batterieindustrie. Hier fördert die Politik entsprechend neue Infrastrukturen bereits mit Zuschüssen für Investitionen in Europa und USA, doch das dauert natürlich alles seine Zeit. Aktuell versucht man eher, die Bänder irgendwie am Laufen zu halten, doch wenn man die Entscheidung für eine regionalere Aufstellung für sich trifft, hat das eine lange Vorlaufzeit, bei der man eher über Jahre als über Monate spricht.

Es gibt also kein Zurück zum alten Zustand?

Wir erleben eine grundsätzliche Änderung. Es geht nun darum, neue Zulieferer zu finden oder aufzubauen, die hochwertige Fähigkeiten und entsprechende Kapazitäten haben. Unter Umständen müssen wieder deutlich mehr Varianten in einem Werk produziert werden, was zu kleineren Losgrößen führt. Das sind Herausforderungen, bei denen sicherlich die neuen Technologien helfen. Doch dabei müssen die Kosten weiter im Griff gehalten werden. Es sei denn, die Kunden wollen für die Risikominimierung mehr bezahlen, das ist jedoch bekanntlich selten der Fall. Es gilt also, ein gesundes Maß zwischen Risiko und Kosten zu finden – denn man kann den Hebel jetzt auch nicht komplett in Richtung Resilienz drehen.