Krieg in der Ukraine: ein Land zwischen Ausnahmezustand, Alltag und Zukunftsambitionen

Wo steht die Ukraine rund anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges? Vor welchen Herausforderungen stehen in der Folge Wirtschaft, Handelsbeziehungen, Logistik und Lieferketten in der Ukraine und Osteuropa. Darüber diskutierten Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft bei der zweiten Ukraine-Konferenz des Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und der KLU – und waren sich einig: trotz des folgenschweren Krieges ist die Ukraine ein funktionierendes und zukunftsfähiges Land mit erheblichem ökonomischen Potenzial.

Der Präsident der KLU, Prof. Dr. Andreas Kaplan und Prof. Dr. Peer Witten, Mitglied des Präsidiums und Arbeitskreissprecher Logistik und Verkehrsinfrastruktur, Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, betonten zur Eröffnung die Verbundenheit mit der Ukraine. Die Zukunft der Ukraine liege in Europa – und möglicherweise auch in der Europäischen Union.

Wiederaufbau mit Blick auf Europa

Dr. Iryna Tybinka, Generalkonsulin der Ukraine in Hamburg, betonte in ihrer Keynote die Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit ihrer Landsleute. „Die Ukraine tut alles, um ein Auslöser für gute Nachrichten zu werden“, sagte sie. Trotz weiter hoher Inflation und zerstörter Infrastruktur rechnen internationale Organisationen in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum der Ukraine, wozu auch die fortschreitende Digitalisierung des Landes beitrage.

Dabei gehe es um mehr als nur den Wiederaufbau – Ziel sei die vollständige Umgestaltung des Landes und Wiederaufbau im Einklang mit den Grundsätzen der EU. Für die notwendige Unterstützung dabei setzt die Ukraine große Hoffnungen in die geplante Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine am 23. Juni 2024 in Berlin. „Ich möchte sie noch einmal auffordern, in die Ukraine zu investieren, mit der Ukraine zusammenzuarbeiten, an die Ukraine zu glauben und an ihre eigene Stärke“, sagte sie.

Dr. Melanie Leonhard, Senatorin für Wirtschaft und Innovation der Freien und Hansestadt Hamburg, richtete ebenfalls den Blick auf die Berliner Konferenz. „Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind fest entschlossen, die Ukraine als freies, stabiles und wirtschaftlich starkes Land wieder mit aufzubauen. Wir wollen unseren Beitrag leisten.“ Dennoch sei durch den Wegfall Russlands als Handelspartner die Logistik und Transporte zwischen Europa und Asien weiterhin beeinträchtigt. „Wir sind gerade wegen der traditionellen Beziehungen, die Hamburg im Außenhandel mit Mittel- und Osteuropa hat, gut aufgestellt, was alle diese schwierigen Fragen der Überwindung der Herausforderungen der Lieferketten betrifft.“

Chancen nutzen

Das anschließende Panel mit Dr. Iryna Tybinka,Dr. Malte Heyne (Hauptgeschäftsführer Handelskammer Hamburg) und Harald Nikutta (Geschäftsführer Control Risks Gmbh) nahm nochmals Logistik und Wirtschaft in Kriegszeiten in den Blick. „Unternehmen müssen klare Kante zeigen“, forderte der Geschäftsführer der Control Risk Gmbh, Harald Nikutta. Noch immer sind viele deutsche Unternehmen stark in Russland involviert. Aus ukrainischer Sicht sei diese Zusammenarbeit und das Bekenntnis einiger Unternehmen, dauerhaft in Russland aktiv bleiben zu wollen, inakzeptabel. Er ermutigte deutsche Unternehmen, sich selbst vor Ort ein Bild der Lage zu verschaffen, und „in Machbarkeit zu denken; dies umfasst auch Ausnahmen. Was habe ich mitgenommen von meinen Reisen vor Ort? Enorme Anpassungsbereitschaft, ganz große Möglichkeiten, jetzt Kontakte zu knüpfen und die Chance, geschäftliche Ansätze neu zu denken.“

 

 

Kein Wiederaufbau ohne Infrastruktur

Die zweite Podiumsdiskussion widmete sich dem Supply Chain Management und der Situation der Lieferketten nach Osteuropa und in die Ukraine. Herausfordernd sind hier, neben fehlender Infrastruktur vor allem die langen Wartezeiten an den Grenzübertritten, insbesondere die aktuelle Blockade an der Polnisch-Ukrainischen Grenze. Hier müsse es dringend Verbesserungen geben, betonte Thomas Fiedler, Speditionsleiter der dls Land und See Speditionsgesellschaft. Philip Sweens (HHLA) und Per Brodersen (German Agribusiness Alliance) forderten eine Verbesserung der verkehrstechnischen Anbindung der Ukraine, gerade im Bahnbereich. Denn die Ukraine selbst sei weiterhin ein interessanter Wirtschaftspartner.

Ivan Lugovoi, Assistant Professor of Medical and Pharmaceutical Supply Chain Management an der KLU und selbst gebürtiger Ukrainer, stimmte dieser Auffassung zu: „Ich würde die aktuelle Situation als Chance begreifen, und die Ukraine nicht nur als Lieferant von landwirtschaftlichen Gütern oder Rohstoffen anzusehen.“ Die Ukrainer seien hart arbeitende Menschen, sehr intelligent, und es gebe nun eine junge Generation mit vielen Möglichkeiten.

„Ohne Infrastruktur wird von europäischer Seite der Wiederaufbau der Ukraine nicht möglich sein“, sagte Marina Basso Michael, Regional Director Europe (Hamburg Hafen Marketing e.V.). „Bevor der Wiederaufbau beginnt, auch wenn die Ukrainer diese Gelder brauchen, muss man erst einmal Feuerwehr spielen auf europäischer Seite und Geld bereitstellen, damit die Infrastruktur steht und der Wiederaufbau starten kann.“

Zum Abschluss der Konferenz platzierte Michael Harms, Geschäftsführer, Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V., einen Appell: „Milliarden-Versprechen und Solidaritätsbekundungen sind wichtig. Wichtig ist aber auch die pragmatische Umsetzung, mit gesundem Menschenverstand und einfachen Instrumenten. Hier können wir noch besser werden.“