Alumni Q&A zum Thema Lieferkettenmanagement im Jahr 2024

2023 war ein sehr spannendes Jahr für das Lieferkettenmanagement. Die Risiken in der Lieferkette haben zugenommen, und 2024 könnten neue Herausforderungen und Unterbrechungen anstehen. Selbst nach Jahren erfolgreicher Arbeit in der Wirtschaft und Erfahrung im Lieferkettenmanagement bringen globale Veränderungen immer neue Herausforderungen mit sich. Da wünscht man sich manchmal, die Professor*innen seiner Alma Mater "zur Hand" zu haben, um ihnen Fragen zu aktuellen Themen zu stellen. In unserer neuen Reihe "Alumni Q&A" stehen unsere Dozent*innen Rede und Antwort zu den aktuellen Herausforderungen. In der ersten Ausgabe stellt sich Kai Hoberg, Professor für Supply Chain und Operations Strategy, den Fragen unserer Absolvent*innen. Kai Hobverg verfügt nicht nur über fundierte akademische Kenntnisse, sondern auch über einschlägige praktische Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Unternehmen wie Bayer, McKinsey, P&G und Jungheinrich.

Anna Sarbacher, Strategie und Planung der Lieferkette bei Daimler (MSc GLSCM, 2017):

Resilienz der Lieferkette ist das neue Schlagwort, nicht erst seit Covid, sondern auch, wenn man die globalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre betrachtet. Wie definieren Sie eine widerstandsfähige Lieferkette und was sind die drei wichtigsten Maßnahmen, die von Lieferkettenmanager*innen umgesetzt werden sollten, um die Widerstandsfähigkeit ihrer Lieferkette effektiv zu erhöhen?

Kai Hoberg: Die Unterbrechungen nach Covid-19 waren ein Wendepunkt für die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten, und das Thema ist in vielen Unternehmen auf die Tagesordnung der Geschäftsführung gerückt. Für mich hat eine widerstandsfähige Lieferkette die Fähigkeit, gegen potenzielle Störungen gewappnet zu sein und sich im Falle einer Störung schnell wieder zu erholen. Übliche Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit sind die Erhöhung von Pufferbeständen, Mehrfachbeschaffung und die Umgestaltung von Netzwerken. Zu Beginn der Pandemie haben viele Unternehmen ihre Lagerbestände aufgestockt, um sich gegen mögliche Störungen abzusichern und ihre Überlebenszeit zu verlängern. Darüber hinaus sind immer mehr Unternehmen von der Einzelbeschaffungsstrategie zur Mehrfachbeschaffung übergegangen. Diese Strategie verringert das Risiko und führt, wenn sie klug durchgeführt wird, nicht zu erheblichen Kostensteigerungen. Langfristig sehen wir, dass viele Unternehmen ihre gesamten Lieferketten umgestalten und verkürzen, z. B. durch die Einrichtung regionaler Lieferketten, wobei eine Lieferkette in Europa den europäischen Markt bedient, eine Lieferkette in Amerika den amerikanischen Markt usw.. Dies ist jedoch in der Regel komplex und kostspielig. Wir müssen abwarten, inwieweit die Maßnahmen zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit der Lieferketten aufrechterhalten werden, wenn der Kostendruck zunimmt und die Erinnerungen an die Auswirkungen von Unterbrechungen schwinden. Für mich nimmt das Risiko größerer Störungen leider eher zu als ab.

Alida Tiemann, Leiterin Lieferkettenmanagement B2B bei Tchibo (MSc GLSCM, 2013):

Welche Technologie wird sich in Zukunft voraussichtlich am stärksten auf die Lieferkettenprozesse auswirken?

Kai Hoberg: Es gab schon immer eine große Diskussion über die Auswirkungen neuer Lieferkettentechnologien. Ich erinnere mich, dass einige Leute sagten, dass der Containerverkehr wegen des 3D-Drucks zurückgehen wird. Wir haben berechnet, dass, wenn alle verfügbaren 3D-Drucker auf der Welt rund um die Uhr drucken, sie weniger als 0,01 % aller verschifften Container füllen könnten. Für einige Branchen ist der 3D-Druck jedoch schon jetzt ein entscheidender Faktor, da er die Möglichkeit bietet, Ersatzteile auf Abruf zu drucken oder maßgeschneiderte Produkte herzustellen. Natürlich stehen künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge ganz oben auf der Tagesordnung. KI in der Planung wird mit besseren Algorithmen, neuen Datenquellen und hochgradig selbständigen Lösungen immer wichtiger - in meinem Kurs "Supply Chain Analytics" verwenden unsere Studierenden Demand Guru und Data Robot, und es ist ziemlich beeindruckend zu sehen, wie weit man auch ohne Python kommt. IoT hat viel Potenzial, da immer mehr Geräte (z. B. Container, Anhänger, Silos) mit Tracking-Technologie ausgestattet werden. Die Unternehmen sind jedoch noch dabei, gute Anwendungsfälle zu entwickeln: Was habe ich davon, wenn ich weiß, wie viel Gewicht im Anhänger ist, wo der Container nachts parkt oder wie voll das Maissilo für die Tierfütterung ist. Es gibt viele Ideen, aber sie müssen monetär verwertbar sein, und die Unternehmen müssen mögliche Widerstände der Partner in der Lieferkette überwinden.

Laszlo Del, Berater bei McKinsey & Company (MSc GLSCM, 2020):

2023 war ein bahnbrechendes Jahr für generative KI (GenAI), mit einem explosiven Wachstum verschiedener GenAI-Tools und -Plattformen. Wo sehen Sie mögliche Anwendungen von GenAI im Lieferkettenmanagement?

Kai Hoberg: Vor ein paar Jahren lief bei IBM ein Werbevideo für die KI-Lösung Watson, und ich musste wirklich lachen. Es zeigte etwas wie "Das Werk des Lieferanten in Singapur ist abgebrannt - Watson, bitte plane meine Lieferkette neu".  Heute sind wir dieser Einstellung vielleicht schon etwas näher, aber ich habe das Gefühl, dass die Anbieter von SCM-Software noch viel Zeit brauchen, um all die komplexen Beziehungen in den Lieferketten, Einschränkungen und Nichtlinearitäten in ihre Planungssuiten einzubauen. Dennoch sehe ich erste reale Anwendungen von GenAI in der Bedarfsplanung. Planer*innen arbeiten zunehmend mit Bedarfsprognosen, die von fortschrittlichen KI-Systemen erstellt werden. Bei diesen Systemen handelt es sich um Blackbox-Systeme. Die Systeme liefern zwar in der Regel eine gute Prognose, z. B. dass in der nächsten Woche 42.142 Packungen Vanilleeis verkauft werden, aber sie geben keinen Aufschluss darüber, warum die Prognose besonders niedrig oder hoch ist. Planer*innen neigen dazu, diesen Systemen zu misstrauen, da sie letztlich für Planungsfehler verantwortlich gemacht werden. Hier können großsprachige Modelle den Planer*innen helfen, mit dem System zu interagieren, um mehr Hinweise zu geben. Fragt die Planerin oder der Planer beispielsweise nach, könnte das LLM erklären, dass die Nachfrageprognose besonders hoch ist, weil die Wettervorhersage gut ist, Preisaktionen für das Eis geplant sind und etwa die Hälfte der Geschäfte das Produkt diesen Monat in die Hauptregale stellen.

Niklas Kimo Bruns, Doktorand an der Universität von Sydney (MSc GLSCM, 2019):

Die Unternehmen haben die nachhaltige Beschaffung wieder ganz oben auf ihre Unternehmensagenda gesetzt, nachdem der Covid-Spuk in den Hintergrund getreten war. Wie können wir nachhaltige Lieferketten erreichen, die keine Kompromisse bei den Gewinnen oder der Widerstandsfähigkeit eingehen?

Kai Hoberg: Es ist schön zu sehen, dass sich immer mehr Unternehmen ihrer Verantwortung für die Nachhaltigkeit bewusst werden. Ich fürchte jedoch, dass nur wenige Unternehmen akzeptiert haben, dass Nachhaltigkeit in der Regel nicht zum Nulltarif zu haben ist. Wir stellen fest, dass viele Unternehmen bereits Schwierigkeiten haben, Transparenz über die Nachhaltigkeit ihrer Lieferkette zu schaffen, da sie die Kosten und den Aufwand für Personal, Kontrollen oder Partner unterschätzen. Leider ist dies nur der Ausgangspunkt - Produkte von nachhaltigen Lieferanten sind oft viel kostspieliger, da neue Prozesse, neue Technologien, geringere Skalenerträge und teurere Rohstoffe erforderlich sind. Für mich stellt sich letztlich die Frage: Können die Unternehmen ihre Kund*innen dazu bewegen, die zusätzlichen Kosten zu tragen? Wenn ein Unternehmen vorprescht und nachhaltig wird, während die Konkurrenz weiterhin das nicht-nachhaltige Produkt zu niedrigeren Kosten anbietet, ist es entscheidend, Kund*innen zu finden, die bereit sind, für Nachhaltigkeit zu zahlen. Eine Lösung, die mich beeindruckt hat, wurde vom Chemieunternehmen Evonik entwickelt. Evonik bietet ein Produkt sowohl auf nachhaltige als auch auf konventionelle Weise an, ohne dabei Kompromisse bei den Größenvorteilen einzugehen - die Kundin oder der Kunde kann also je nach ihren bzw. seinen Präferenzen wählen.

Elsa Cropp, Digital Supply Chain Manager bei Accenture Industry X (MSc GLSCM, 2019):

Bei der Einführung fortschrittlicher Supply-Chain-Software verlassen sich Unternehmen oft auf externe Dienstleister*innen, die sie bei der Implementierung/Rollout der neuen Tools unterstützen. Dies bringt Herausforderungen mit sich: die Zusammenarbeit mit externen Partnern, die Übernahme neuer Prozesse, das schnelle Tempo und vieles mehr. Was müssen die Unternehmen ihren Projektteams/Mitarbeiter*innen bieten, um die genannten Herausforderungen zu bewältigen und eine reibungslose Implementierung zu ermöglichen?

Kai Hoberg: Externe Partner*innen für die Implementierung neuer Supply Chain Planning Suites sind in der Regel unerlässlich. Es gibt viele wunderbare neue SC-Planungssuiten (z. B. o9, Kinaxis, Blue Yonder oder SAP IBP, um nur einige zu nennen), die das Spiel verändern werden. Doch schon die Auswahl der geeigneten Software ist eine Herausforderung für sich. Die meisten Unternehmen führen diese Art von groß angelegter Implementierung seltener als einmal in zehn Jahren durch, und die Leiter*innen der Lieferkette verfügen häufig nicht über die erforderlichen Marktkenntnisse, den Hintergrund in Sachen Softwarearchitektur und die Erfahrung mit der Implementierung. Eine Schlüsselfrage ist sicherlich, inwieweit die Standardsoftware die Anforderungen des Unternehmens erfüllen kann und inwieweit man die Software anpassen muss. Meiner Meinung nach sollten Anpassungen so weit wie möglich vermieden werden - auch wenn dies bedeutet, dass liebgewonnene Prozesse übernommen werden müssen. Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter*innen darauf vorbereiten, dass die Interaktion mit Implementierungspartner*innen wie eine Reise in ein fremdes Unternehmen sein kann - manchmal spricht man nicht dieselbe Sprache, manchmal muss man auf Dinge verzichten, die man nicht bekommt, und manchmal muss man rennen, um den nächsten Flug zu erwischen.

Minsang Eom, Berater für die Lieferkette bei LIDD, South Korea (BSc BA, 2022):

KI wird bereits in mehreren Branchen eingesetzt, und die Lieferkette ist keine Ausnahme. Welche Rolle wird die KI in der Branche spielen, und welche Rolle werden unsere menschlichen SC-Manager*innen im Zusammenhang mit der KI spielen?

Kai Hoberg: Ich diskutiere gerne über die Rolle des Menschen, wenn es um die Interaktion mit KI im Lieferkettenmanagement geht. Wir sehen, dass sich die Rolle des Menschen mit immer mehr KI-basierten Planungslösungen verändert. In der Vergangenheit haben Supply-Chain-Manager*innen alle verschiedenen Arten von Daten gesammelt und integriert, Analysen in verschiedenen Software-Tools durchgeführt (einschließlich des weltweit am häufigsten verwendeten SC-Planungssystems: Microsoft Excel) und dann im Moment der Wahrheit eine Entscheidung getroffen. Bei besserer KI-basierter Software müssen die Planer*innen immer noch die Datenqualität sicherstellen und Parameter anpassen. KI-basierte Systeme geben dann jedoch - oft sehr gute - Empfehlungen ab, die die Planer*innen überprüfen und validieren können. Für viele Standardprodukte kann der Planungsprozess nahezu berührungslos ablaufen, wenn die Planer*innen dem erzeugten Ergebnis vertrauen. Bei anderen Produkten mit stärkerer Nachfrageschwankung und häufigen Lieferunterbrechungen müssen die Planer*innen mehr Aufwand betreiben und diese Ausnahmen verwalten. Der Betrieb und die Optimierung des Systems zur Steigerung der berührungslosen Planung ist jedoch eine ganz neue Aufgabe für SC-Manager*innen.

Román Peláez, Logistikspezialist bei Volkswagen de México (MSc GLSCM, 2015):

Welche Fähigkeiten sind Ihrer Meinung nach ein "Muss" für eine Logistikmanagerin bzw. einen Logistikmanager in der heutigen Zeit?

Kai Hoberg: Ich möchte Ihnen gerne unser neues Buch "Global Logistics and Supply Chain Strategies for the 2020s: Vital Skills for the Next Generation", das ich zusammen mit meinem Kollegen Rico Merket an der Universität von Syndey herausgegeben habe. Für die Einleitung wollten wir uns einen umfassenden Überblick über die künftigen Fähigkeiten verschaffen und haben 31 führende Akademiker*innen und 25 leitende Manager*innen nach den drei wichtigsten Fähigkeiten gefragt, die für eine erfolgreiche Karriere in der Lieferkette erforderlich sind. Diese Fähigkeiten lassen sich grob in drei "Superkräfte" einteilen: technische Fähigkeiten, zwischenmenschliche und soziale Fähigkeiten sowie interdisziplinäre Fähigkeiten. Technische Fähigkeiten umfassen die analytischen Fähigkeiten, die es Fachleuten ermöglichen, Daten, neue Technologien und Optimierungstechniken zu nutzen, um operative Exzellenz zu fördern und datengestützte Entscheidungen zu treffen. Zwischenmenschliche und soziale Fähigkeiten werden als wesentlich für eine effektive Zusammenarbeit, Kommunikation und Führung innerhalb funktionsübergreifender Teams und mit externen Interessengruppen angesehen. Interdisziplinäre Fähigkeiten schließlich überbrücken die Kluft zwischen verschiedenen Disziplinen und Bereichen und ermöglichen es den Fachleuten, ganzheitlich zu denken und die umfassenderen Herausforderungen der Nachhaltigkeit, der Widerstandsfähigkeit und der strategischen Entscheidungsfindung in der Lieferkette anzugehen. Jede dieser Qualifikationskategorien spielt eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Erfolgs und der Effektivität von Fachleuten der Lieferkette in diesem Jahrzehnt.